Heine-Preis 2024 für David Grossman
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Der Heine-Preis zählt zu den bedeutendsten Literatur- und Persönlichkeitspreisen in Deutschland und wird seit 1972 verliehen; er ist mit 50.000 Euro dotiert. Der Preis wird an einem Termin rund um Heinrich Heines 227. Geburtstag (13. Dezember) in einem Festakt überreicht. Der genaue Termin des Festaktes wird noch bekannt gegeben.
David Grossman wurde nach der Jury-Sitzung durch Oberbürgermeister Dr. Stephan Keller telefonisch über die Auszeichnung informiert. "Ich freue mich sehr. Eine gute Nachricht in einer Zeit mit so vielen schlechten Nachrichten", sagte Grossman.
Oberbürgermeister Dr. Stephan Keller: "Mit David Grossman ehrt die Landeshauptstadt Düsseldorf einen der bedeutendsten Vertreter der israelischen Gegenwartsliteratur, der sich für Verständigung und Toleranz nicht nur im Nahost-Friedensprozess einsetzt. Ich freue mich sehr über die Auszeichnung Grossmans, mit der ein Schaffen geehrt wird, das ganz in der Tradition Heinrich Heines Versöhnung und Dialog in den Mittelpunkt stellt."
Die Jury begründet ihr Votum wie folgt: "Den Heine-Preis der Landeshauptstadt Düsseldorf 2024 erhält David Grossman, eine der bedeutendsten Stimmen der Gegenwartsliteratur. Seine Prosa ist durchdrungen vom tiefen Verständnis und empathischer Nähe zu den Menschen mit ihren unauflöslich erscheinenden Konflikten. Ganz im Sinne Heinrich Heines tritt er klarsichtig für die Zusammengehörigkeit aller Menschen ein und setzt auf die verbindende Kraft der Literatur. In seinen intellektuell bestechenden, differenzierten Reden und Essays wirbt er unaufhörlich für Frieden und Aussöhnung im Nahen Osten. Er wird nicht müde, der Menschlichkeit eine Stimme zu geben."
Der Heine-Preis wird durch die vom Rat der Landeshauptstadt Düsseldorf eingesetzte Jury "an Persönlichkeiten verliehen, die durch ihr geistiges Schaffen im Sinne der Grundrechte des Menschen, für die sich Heinrich Heine eingesetzt hat, den sozialen und politischen Fortschritt fördern, der Völkerverständigung dienen oder die Erkenntnis von der Zusammengehörigkeit aller Menschen verbreiten".
Preisträger David Grossman - Kurzvita
David ("Dudu") Grossman wurde am 25. Januar 1954 im Jerusalemer Viertel Bejt-Masmil geboren. Schon mit zehn Jahren wurde Grossman als Hörspielsprecher engagiert. 1971-1975 diente er in der israelischen Armee. In diese Zeit fielen der Jom-Kippur-Krieg (Oktober 1973) und der vierte arabisch-israelische Krieg im Rahmen des Nahostkonflikts seit der Staatsgründung Israels (1948). Grossman studierte danach Philosophie und Theaterwissenschaft an der Hebräischen Universität Jerusalem und schloss sein Studium 1979 mit dem Bachelor ab.
Ab 1970 war er als Nachrichtenredakteur, Hörspielautor und -sprecher beim staatlichen Radiosender "Kol Israel" beschäftigt, wo er bis 1984 unter anderem die populäre Kindersendung "Cat in a Sack" präsentierte. Dem Schreiben widmete sich Grossman zunächst nebenberuflich, ehe er sich als Schriftsteller selbstständig machte und mit Romanen, Erzählungen und Essays international bekannt wurde. Er trat auch als linksgerichteter Friedensaktivist hervor und äußerte sich viele Male kritisch zum Nahostkonflikt und Israels Regierungen. Mit Autorenkollegen wie Amos Oz, Yoram Kaniuk und Joshua Sobol wurde er zu einer prominenten Gruppe "kritischer Israelis" gezählt, die sich in der Heimat zeitweise heftigen Attacken ausgesetzt sah.
Krieg und Gewalt, die den Alltag in Israel bestimmen, sind das Thema vieler seiner Bücher. Im besetzten Westjordanland spielt sein hoch gerühmter Erstlingsroman "Das Lächeln des Lammes" aus dem Jahr 1983 (deutsch 1988, verfilmt 1985). Die Diskussion, wie und ob die Shoah (Grossman hält diese Bezeichnung für angemessener als "Holocaust") literarisch zu verarbeiten sei, belebte der Autor mit seinem zweiten, nicht nur in Israel umstrittenen Roman "Stichwort: Liebe" (1986, deutsch 1991), der ihn international bekannt machte. Sein Reportageband "Der geteilte Israeli: Über den Zwang, den Nachbarn nicht zu verstehen" (deutsch 1992) war den Arabern beziehungsweise Palästinensern mit israelischer Staatsangehörigkeit gewidmet, einer Bevölkerungsgruppe, die von beiden Seiten mit Misstrauen behandelt wurde.
Grossman zählt zu den Vertretern einer Zwei-Staaten-Lösung und unterstützte während der zweiten Intifada (2000-2005) die private israelisch-palästinensische "Genfer Friedensinitiative" von 2003, deren Text in Israel mit einem Vorwort von Grossman verteilt wurde. Trotz oder gerade wegen seines Lebens im permanenten Kriegszustand schrieb er weiterhin Romane über individuelle Schicksale, die sich zu komplexen Gesellschaftsromanen verdichten.
Grossman, der trotz aller Kritik an seinem Staat als Patriot gilt und sich zwar als Freund des Friedens, aber nicht als radikaler Pazifist versteht, unterstützte 2006 zunächst den Libanon-Krieg der israelischen Armee gegen schiitische Hisbollah-Milizen, forderte dann jedoch in der Zeitung "Haaretz" und in einer vielbeachteten Pressekonferenz gemeinsam mit den Autoren Abraham B. Jehoschua und Amos Oz einen sofortigen Waffenstillstand, da das Vorgehen mittlerweile "nicht mehr zu rechtfertigen" sei. Damals arbeitete er an seinem Roman "Eine Frau flieht vor einer Nachricht", worin die Protagonistin, deren Sohn Soldat ist, sich einer befürchteten Todesnachricht zu entziehen versucht. Die Schilderung, wie die äußere Gewalt in das verletzliche Gewebe einer Familie eingreift und es zerreißt, wurde für Grossman selbst tragische Realität: Zwei Tage nach seinem öffentlichen Appell, kurz vor Eintritt der Waffenruhe, starb sein Sohn Uri als Soldat im Libanon. Das oft als sein "Hauptwerk" bezeichnete Buch erschien 2008 (deutsch 2009) und avancierte umgehend zum Bestseller.
Sein bisher persönlichstes Werk legte er 2011 mit "Aus der Zeit fallen" (deutsch 2012) vor - eine Totenklage, aber auch ein Buch über die Rückkehr ins Leben und das Leben mit den Toten. Eine Bühnenfassung wurde 2013 in Berlin uraufgeführt. Für seinen Roman "Kommt ein Pferd in die Bar" (2014, deutsch 2016) gewann er 2017 als erster Israeli den Man Booker International Prize. 2018 wurde das Buch vom Wiener Akademietheater als Bühnenstück adaptiert. Auch politisch meldete er sich weiterhin engagiert zu Wort; so verfasste er 2013 eine von 24 israelischen Autorinnen und Autoren mit unterzeichnete Petition gegen die geplante Vertreibung von rund tausend Palästinensern aus ressourcenreichen Gebieten im israelisch kontrollierten Teil des Westjordanlandes. Erschüttert zeigte er sich wie das ganze Land im Oktober 2023 von dem Terrorüberfall und den Massakern der radikalislamischen Hamas auf und in Kibbuzim und Ortschaften im Südwesten Israels.
Grossman erfuhr zahlreiche Ehrungen und Auszeichnungen. In Israel wurde ihm 2007 der Emet Prize ("Wahrheitspreis") zugesprochen und 2018 der Israel-Preis, die höchste staatliche Kulturauszeichnung des Landes. 2010 erhielt er den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels für ein Werk, das "nicht nur die eigene, sondern immer auch die Haltung des jeweils Andersdenkenden zu verstehen" suche, wie die Jury mitteilte. Er ist Träger des Großen Verdienstkreuzes der Bundesrepublik Deutschland (2021) und bekam 2022 den hochdotierten Erasmus-Preis der Niederlande.
Unter anderem sind folgende Werke David Grossmans erschienen: "Das Lächeln des Lammes" (1983; deutsch 1988), "Diesen Krieg kann keiner gewinnen: Chronik eines angekündigten Friedens" (2003)), "Eine Frau flieht vor einer Nachricht" (2008; deutsch 2009), "Kommt ein Pferd in die Bar" (2014; deutsch 2016), "Was Nina wusste" (deutsch 2020), "Opa, warum hast du Falten?" (2021; deutsch 2023), "Frieden ist die einzige Option" (2024).
Heine-Preis - bisherige Preisträgerinnen und Preisträger sowie Jury
Der Preis, den Düsseldorf als Vaterstadt zu Ehren des 1797 geborenen Heinrich Heine gestiftet hat, wird zum 23. Mal vergeben. Bisherige Heine-Preisträgerinnen und Preisträger sind: Carl Zuckmayer (1972), Pierre Bertaux (1975), Sebastian Haffner (1978), Walter Jens (1981), Carl Friedrich Freiherr von Weizsäcker (1983), Günter Kunert (1985), Marion Gräfin Dönhoff (1988), Max Frisch (1989), Richard von Weizsäcker (1991), Wolf Biermann (1993), Wladyslaw Bartoszewski (1996), Hans Magnus Enzensberger (1998), W.G. Sebald (2000), Elfriede Jelinek (2002), Robert Gernhardt (2004), Amos Oz (2008), Simone Veil (2010), Jürgen Habermas (2012), Alexander Kluge (2014), A. L. Kennedy (2016), Leoluca Orlando (2018), Rachel Salamander (2020) und Juri Andruchowytsch (2022).
Der Heine-Preis-Jury 2024 gehörten an
als Vertretende der Landeshauptstadt Düsseldorf:
Dr. Stephan Keller (Oberbürgermeister, Vorsitzender der Jury),
Miriam Koch (Beigeordnete für Kultur und Integration),
Dr. Sabine Brenner-Wilczek (Direktorin Heinrich-Heine-Institut und Schumann-Haus).
als Vertretende der Fraktionen:
Dr. Susanne Schwabach-Albrecht (CDU),
Bürgermeisterin Klaudia Zepuntke (SPD),
Dr. Veronika Dübgen (FDP),
Karin Trepke (Bündnis 90/Die Grünen),
Stefan Job (Die PARTEI-Klima-Fraktion)
als Fachjurorinnen und -juroren:
Dr. Sabine Bierwirth,
Prof. Dr. Anne Bohnenkamp-Renken,
Dr. Traudl Bünger,
Jo Lendle,
Dr. Wolfgang Trautwein
als entsandte Mitglieder:
Dr. Martin Roos (entsandtes Mitglied der Heinrich-Heine-Gesellschaft)
Hinweis: Die Jury-Mitglieder Reinhard Gorenflos, Prof. Dr. Anja Steinbeck und Dr. Luzia Vorspel-Squarr waren terminlich verhindert und konnten an der Sitzung nicht teilnehmen.