Paris, 1962 - Chronologie eines Kinojahres
| News Sammlung - Amt 41-214
Ende der 1950er-Jahre beginnt in Paris eine Gruppe von Regissseur*innen das französische Kino zu erneuern – eine Reaktion auf das starre und studiogebundene Kino der 1950er-Jahre. Angeführt von François Truffaut und weiteren Kollegen der Filmzeitschrift Cahiers du Cinema entsteht die „Nouvelle Vague“. Ab 1958 erscheinen zahlreiche Debutfilme neuer Filmschaffender. Das Jahr 1962 markiert dabei einen Wendepunkt: Die meisten Filmemacher*innen der Nouvelle Vague haben ihre ersten Versuche hinter sich gelassen, ihre Filme werden fester Bestandteil der Pariser Kinolandschaft, sie haben sich etabliert. Im Dezember 1962 berichtet die Cahiers du Cinema mit einer Sondernummer erstmalig über die Nouvelle Vague und verankert diese Strömung als elementaren Bestandteil in der französischen Filmkultur.
Die Filmreihe „Paris 1962“ präsentiert Filme, die in der französischen Hauptstadt gedreht und in diesem prägnanten Jahr in den Pariser Kinos gesehen und rezipiert wurden. Wie haben die Kinogänger*innen dieses Kinojahr erlebt? Welche Umstände prägten das Filmgeschehen? Eine der ersten interessanten Pariser Kinoveröffentlichungen im Jahr 1962 ist VIE PRIVÉE von Louis Malle, der ab dem 31. Januar Brigitte Bardot in der Hauptrolle präsentiert und so den Mythos um ihre Person behandelt. Bardot befindet sich auf dem Höhepunkt ihrer Karriere, sie und ihre Ehe mit dem Schauspieler Jacques Charrier wird von der Boulevard-Presse genau beobachtet und kommentiert. Noch ahnt niemand, dass bereits im Jahr 1963 die Scheidung folgen wird. Ebenfalls im Januar bringt François Truffaut JULES ET JIM ins Kino. Er und seine Hauptdarstellerin Jeanne Moreau werden noch im selben Jahr mit dem Étoile de Cristal der französischen Filmakademie für den besten französischen Film und die beste Darstellerin ausgezeichnet.
Der Februar 1962 wird zu einem nationalen Trauma: Bevor Frankreich und Algerien im März 1962 in Évian-les-Bains einen Friedensvertrag unterzeichnen, kommen während einer Demonstration gegen den Algerienkrieg an der Metrostation Charonne neun Personen durch Polizeigewalt ums Leben. In Krisensituationen dürstet es den Menschen nach Ablenkung. Jacques Demy dreht seine Filme außerhalb von Paris und ist ein gutes Beispiel für ein bewusst unbeschwertes Kino, das trotz eskapistischem „Gestus“ den Algerienkrieg rückblickend nicht ausklammert. Am 18. März gewinnt Isabelle Aubret in Luxemburg mit dem Lied Un premier amour für Frankreich die siebte Auflage des Eurovision Song Contest. Jacques Demy wird auf sie aufmerksam und sieht sie für eine Hauptrolle in LES PARAPLUIES DE CHERBOURG (1964) vor. Der Plan wird sich nicht umsetzen lassen, da Isabelle Aubret vor Drehbeginn einen schweren Autounfall hat. Jacques Demys Ehefrau Agnès Varda bringt am 11. April 1962 ihren zweiten Spielfilm CLÉO DE 5 À 7 auf die Pariser Leinwände, der sich zum einen ins Private zurückzieht und zum anderen Paris als zweite Hauptdarstellerin inszeniert. Die Filmkritikervereinigung Association Française de la Critique de Cinéma kürt den Film zum besten französischen Film des Jahres und zeichnet ihn mit dem Prix Méliès aus. Wenige Tage später, am 16. April, wird Georges Pompidou Premierminister Frankreichs.
Das Jahr 1962 ist eines der fruchtbarsten in der Geschichte des Jazz. Dies macht sich auch in Paris bemerkbar: Charles Aznavour gibt eines seiner legendären Konzerte am 3. April 1962 in Paris und Ray Charles spielt zwischen dem 17. und dem 25. Mai eine Reihe von Konzerten im Olympia. Die Regisseure der Nouvelle Vague inszenieren ihre Filme ebenfalls mit großer Lust an der Improvisation und die aus den USA stammende Populärkultur übt eine große Faszination auf sie aus. Möglicherweise sind Jean-Luc Godard, Louis Malles oder François Truffaut auf einigen der zahlreichen Jazzkonzerte in diesem Jahr in Paris anzutreffen. Am 3. Juni 1962 wird eine Boeing 707-328B der Air France, die sich auf dem Flug nach New York-Idlewild befand, bei einem missglückten Startabbruch auf dem Flughafen Paris-Orly vollständig zerstört. Zu Beginn des Jahres drehte Marker dort noch seinen Fotofilm LA JETÉE. In einem Interview erläutert er rückblickend, er habe eine Geschichte fotografiert, die er selbst nie ganz verstanden habe. Später im Sommer findet die 49. Tour de France statt, die am 24. Juni in Nancy beginnt und am 15. Juli in Paris endet. Jacques Anquetil gewinnt nicht nur das Rennen, sondern stellte mit einer Durchschnittsgeschwindigkeit von 37,306 km/h auch einen neuen Geschwindigkeitsrekord auf. Louis Malle dokumentiert das große Sport-Event in seinem Film VIVE LE TOUR. Das gedrehte Material wird Malle allerdings erst Jahre später auf dem Schneidetisch montieren. Nachdem Romy Schneider auf der Suche nach anspruchsvollen Rollen 1958 nach Paris gegangen war, sind nach Engagements am Theater im Jahr 1962 ihre ersten bedeutenden Filme im Kino zu sehen: BOCACCIO 70, LE PROCÉS und im September Alain Cavaliers LE COMBAT DANS LÎLE. Der Film ist stark von den Ereignissen rund um die rechtsextremistischen Umtriebe der französischen Terrororganisation OAS („Organisation de l‘armée secrète“) beeinflusst, deren mörderische Machenschaften in den Jahren 1961 und 1962 in Paris ihren Höhepunkt fanden. Im selben Monat startet VIVRE SA VIE, der bereits vierte Spielfilm von Jean-Luc Godard, in den französischen Kinos. Godard reizt als Essayist mit hohem formalistischen Anspruch den Regelbruch maximal innovativ aus. In der Hauptrolle ist seine damalige Ehefrau Anna Karina zu sehen. Im Dezember schließt das Kinojahr 1962 mit einer Ausgabe der Filmzeitschrift Cahiers du Cinema, die ausschließlich dem Thema „Nouvelle Vague“ gewidmet ist. Neben Interviews mit Godard, Chabrol und Truffaut werden 162 (!) neue französische Filmschaffende präsentiert, denen bescheinigt wird, durch ihre formalästhetischen Qualitäten Teil der Nouvelle Vague zu sein.
Ebenso schnell wie die Regisseur*innen der Nouvelle Vague das französische Kino kaperten, erneuerten und weltweilt Einfluss auf das Filmgeschehen nahmen, wird auch ihr Ende attestiert. So schrieb der Regisseur (und Kritiker dieser Strömung) Michel Audiard bereits im Jahr 1959 „Die Nouvelle Vague ist tot.“ Im Kurzfilm LE CINÉMATHÈQUE FRANÇAIS gesteht Jean Herman den Protagonisten der Nouvelle Vague einen weitreichenderen Einfluss zu. Bei den Regisseuren handele es sich um „junge Männer, die das Kino von morgen in sich tragen.“
Wichtige Information:
Leider muss die Vorführung des Films THÉRÈSE DESQUEYROUX am kommenden Samstag, 19. Oktober 21 Uhr, ausfallen. Wir bitten um Verständnis und verweisen auf den Wiederholungstermin am Sonntag, 27. Oktober um 15 Uhr.
Das Programm
DI 1.10. 20 Uhr | SA 5.10. 21 Uhr
LE PARIS DES MANNEQUINS
F 1962 · 11 min · OmeU · digitalDCP · ab 18 · R: François Reichenbach · K: Jean-Marc Ripert
VIE PRIVÈE · PRIVATLEBEN
F 1962 · 104 min · OmeU · digital1080p · FSK 16 · R: Louis Malle · B: Jean-Paul Rappeneau, Louis Malle, Jean Ferry · K: Henri Decaë · D: Brigitte Bardot, Marcello Mastroianni, Nicolas Bataille, Dirk Sanders u.a.
Louis Malles VIE PRIVÉE steht nicht nur für eine kritische Auseinandersetzung mit dem Showgeschäft, sondern markiert auch einen Wendepunkt in der Karriere von Brigitte Bardot, eine der bekanntesten Ikonen des französischen Kinos. VIE PRIVÉE verhalf Brigitte Bardot zum Durchbruch. Sie verkörpert im Film die Rolle der Jill, einer Schauspielerin, die mit ihrem Umzug nach Paris zum Star und Idol der Massen aufsteigt. Während sie gnadenlos durch die Mühle der Kulturindustrie gedreht wird, droht sie an ihrer Einsamkeit zu zerbrechen.
Der Vorfilm LE PARIS DES MANNEQUINS von François Reichenbach konstruiert ein Setting, das einige Mannequins als symbolische Objekte konstituiert.
DO 3.10. 17.30 Uhr | SA 5.10. 18.45 Uhr
LE CINÉMATHÈQUE FRANÇAIS
F 1962 · 9 min · OmeU · digitalDCP · ab 18 · R/B: Jean Herman · K: Denys Clerval
JULES ET JIM · JULES UND JIM
F 1962 · 105 min · DF · 35mm · FSK 18 R: François Truffaut · B: François Truffaut, Jean Gruault nach einer Vorlage von Henri-hé · K: Raoul Coutard · D: Jeanne Moreau, Oskar Werner, Henri Serre u.a.
JULES ET JIM von François Truffaut fängt nicht nur die Atmosphäre und die Stimmung der Belle Époque perfekt ein, sondern fesselt zusätzlich mit seiner einfühlsamen Darstellung menschlicher Beziehungen: Die beiden Freunde dieser Dreiecksgeschichte – der kleine rundliche Österreicher Jules und der große schmale Franzose Jim – lernen sich 1907 auf dem Montmartre kennen und sind die engsten Freunde, die sich durchaus auch ihre Geliebten teilen. Als die charismatische Catherine in ihr Leben tritt, bittet Jules seinen Freund: „Die da nicht? …ja, Jim?"
Der von seiner Mutter vernachlässigte François Truffaut wuchs überwiegend in der Pariser Kinemathek auf und war Zeit seines Lebens eng mit ihr verbunden. Im Vorfilm LA CINÉMATHÈQUE FRANÇAISE wirft der junge Regisseur Jean Herman einen Blick in ihren Vorführraum in der Rue d‘Ulm, in ihre Büros in der Rue de Courcelles und portraitiert ihre Mitarbeiter*innen Lotte Eisner, Mary Meerson, Marie Epstein und natürlich Henri Langlois, den Gründer, langjährigen Leiter und laut François Truffaut den „begabtesten aller Filmliebhaber“.
SO 6.10. 17 Uhr | SA 12.10. 18.45 Uhr
DANS LE VENT
F 1962 · 8 min · OmeU · digitalDCP · ab 18 · R: Jacques Rozier, William Rozier · B: Denise Dubois-Jallais, Jacques Rozier · K: Willy Kurant
CLÉO DE 5 À 7 · CLEO – MITTWOCH ZWISCHEN 5 UND 7
F 1962 · 90 min · OmeU · 35mm · FSK 16 · R/B: Agnès Varda · K: Paul Bonis, Alain Levent, Jean Rabier · D: Corinne Marchand, Antoine Bourseiller, Dominique Davray u.a.
Das Porträt der jungen Cléo Victoire, integriert in ein filmisches Dokument über Paris im Sommer. Cléo steht kurz vor dem Durchbruch als Sängerin, fühlt sich aber in ihrer jungen Naivität bereits als Star. An einem Mittwoch zwischen fünf und sieben gerät ihre Welt ins Wanken.
Hüte, Mäntel, Stiefel und Umhänge: Das sind die Themen des Vorfilms DANS LE VENT, Jacques Roziers kurzem Dokumentarfilm über die französischen Modetrends des Jahres 1962. Durch die Kombination von Techniken des Cinéma vérité mit Pop-Art-Sensibilität, und dem Score des legendären Serge Gainsbourg, fängt der Film die Atmosphäre des modernen Paris und eine fragile, jugendlichnaive Unbeschwertheit ein – die im Verlauf des Hauptfilms CLÉO DE 5 À 7 zu zerbrechen droht.
SA 12.10. 20.30 Uhr | FR 18.10. 18.45 Uhr
VIVE LE TOUR
F 1962 · 18 min · OmU · digitalDCP · FSK 6 · R/B: Louis Malle · K: Ghislain Cloquet, Jacques Ertaud, Louis Malle
LE SIGNE DU LION · IM ZEICHEN DES LÖWEN
F 1962 · 103 min · DF · 35mm · FSK 16 · R/B: Éric Rohmer · K: Nicolas Hayer D: Jess Hahn, Van Doude, Michèle Girardon u.a. • Kinostart: 3. Mai 1962
Der erste Langspielfilm von Éric Rohmer zählt zu den Schlüsselwerken der französischen Nouvelle Vague: Pierre Wesselrin, ein in Paris unbekümmert vor sich hinlebender US-Amerikaner, erfährt, dass sein erwartetes Erbe nicht ihm, sondern seinem Cousin zufallen wird. Der gescheiterte Musiker und Bohemien wird zum Clochard und Gelegenheitsdieb. Der Film fängt seine Streifzüge durch das sommerliche Paris mit Distanz aber Beharrlichkeit ein und konzentriert sich dabei auf kleine, alltägliche Details.
Der anschließende Kurzfilm VIVE LE TOUR von Louis Malle zeigt die siegorientierten Rennradfahrer, Teilnehmer an der Tour de France 1962. Jean Bobet, selbst Radsportler und Bruder des großen Louison Bobet, spricht in diesem energetischen Dokumentarfilm die Off-Stimme. Die Musik stammt von Georges Delerue.
FR 18.10. 20.45 Uhr | FR 25.10. 18.30 Uhr
LE COMBAT DANS L‘ ÎLE · DER KAMPF AUF DER INSEL
F 1962 · 104 min · DF · digitalDCP · FSK 16 · R: Alain Cavalier · B: Alain Cavalier, Jean-Paul Rappeneau · K: Pierre Lhomme D: Romy Schneider, Jean-Louis Trintignant, Henri Serre u.a.
Clément, der Sohn eines Fabrikanten, gehört einer rechtsextremen Gruppe an, die die „Befreiung Europas“ zum Ziel hat. Nach einem Fehlschlag spürt Clément den dafür schuldigen Verräter in Südamerika auf und erschießt ihn auf Anweisung des Gruppenführers. In seiner Abwesenheit beginnt seine Frau eine Liebesaffäre mit einem liberalen Drucker, was nach der Rückkehr des Extremisten zu einer harten Auseinandersetzung führt.
SA 19.10. 21 Uhr | SO 27.10. 15 Uhr
THÉRÈSE DESQUEYROUX · DIE TAT DER THERESE D.
F 1962 · 109 min · DF · 35mm · FSK 16 · R: Georges Franju · B: François Mauriac, Claude Mauriac, Georges Franju nach einer Vorlage von Claude Mauriac · K: Christian Matras · D: Emmanuelle Riva, Philippe Noiret, Edith Scob u.a.
Eine junge Frau droht nach der Einheirat in eine Landpatrizierfamilie an deren seelenlos egoistischer Lebensweise zu Grunde zu gehen und versucht schließlich ihren Mann zu ermorden. Der Film erzählt in einer Rückblende die Umstände, die zu der Tat und der darauffolgenden Anklage führten. Die Auflösung des Handlungsrahmens in einem Café entlässt die junge Frau schlussendlich in die Pariser Großstadt. Ein bemerkenswertes Zeugnis tiefer Humanität und der Suche nach freiheitlicher menschlicher Existenz.
SO 20.10. 15 Uhr | FR 25.10. 20.30 Uhr
LA JETÉE · AM RANDE DES ROLLFELDS
F 1962 · 28 min · OmeU · digitalDCP · ab 18 · R/B: Chris Marker · K: Jean Chiabaut, Chris Marker · D: Hélène Châtelain, Davos Hanich, Jacques Ledoux
VIVRE SA VIE · DIE GESCHICHTE DER NANA S.
F 1962 · 83 min · DF · 35mm · FSK 12 · R: Jean-Luc Godard · B: Jean-Luc Godard, Marcel Sacotte · K: Raoul Coutard · D: Anna Karina, Sady Rebbot, André S. u.a.
„Man ist verantwortlich für das, was man ist und tut.“ sagt Nana zu Beginn des Films und wird eher zufällig Prostituierte. Als sie sagt, was sie will, nämlich mit ihrem Geliebten zusammenziehen, zeigt ihr Zuhälter wenig Verständnis. Und wir, die wir zusammen mit Nana zuvor Carl Theodor Dreyers PASSION DE JEANNE D‘ARC (1928) im Kino gesehen haben, sind nicht überrascht über dessen Reaktion. In zwölf Kapiteln erzählt Jean-Luc Godard die Passion der Nana S. im schwarzweißen Paris.
Neben Jean-Luc Godard gilt auch Chris Marker als Formalist und Avantgardist, der immer wieder die Regeln und die Formsprache des Kinos herausforderte. Sein experimenteller Science-Fiction-Film LA JETÉE ist aus Standbildern montiert und wurde von ihm selbst als „Photoroman“ bezeichnet. Gedreht auf dem Pariser Flughafen Orly erzählt er die Geschichte einer Apokalypse.